Das Projekt der Dezivilisierung
Soweit ich Norbert Elias verstehe, beschreibt er den Prozess der Zivilisation als unilinear, wenngleich wellenförmig. Hin und her, aber vorwiegend hin. Hin zu feineren Sitten und besserem Verhalten - besser entspricht hier mächtigerem. Die Sitte als Machterhalt, Zivilisierung als Abgrenzung zum Pöbel. Zivilisierung als Kampftraining für den Mächtigen. Sein Handeln auch mal im Zaum halten zu können, um die Rache noch fieser zu gestalten. Wir sind sicher keine militaristischen Spartaner, aber was macht uns zu einer Zivilgesellschaft?

Wir sprechen von der Verfeinerung der Sitten, andere, wie ich, von einer immer länger werdenden Verbotsliste. Uns scheint das Barbarische als rau und ungemütlich. Uns erschliesst sich die Vergangenheit als gezwungen und voller Schranken. Wir blättern in dem Märchenbuch unserer Vorstellung und entdecken, dass unsere Welt die beste von allen ist. Wir verklären und vergessen ein wenig das Problem des Beobachters. Hierbei biegen wir uns die Dinge so hin, so, dass uns die Raumzeit garnicht gekrümmt genug sein könnte. Für mich steht die Wahrnehmung da noch in einer Bringschuld.

Wer hätte gedacht, dass Tunesien sexuelle Selbstbestimmung erst mit 21 vorsieht, während der Vatikan 12 für ausreichend hält, und eine arabische Prinzessin nach Europa kommen musste, um die Gabel in den europäischen Dunstkreis zu integrieren.

Mit den Händen essen, warum nicht. Warum sollte das gesellschaftlich verpöhnt sein. Mag man einwenden, dass es früher gesünder war. Beim heutigen Waschzwang fängt man sich maximal eine Hautkrankheit ein; mit den Händen oder Füssen essen wäre da im Grunde medizinisch indiziert und angesagt. Was einmal eingeführt, hält sich aber zumeist, und daraus erwächst eines der, wenn nicht das Grundübel der Gesellschaft.

Ich hatte das ja schon in "Du bist nicht Deutschland 2:-(" erwähnt, dass uns diese Hyperbel in eine Welt wie folgt führt.

Haben Sie sich schon überlegt, wo das hinführt, die zunehmende soziale Reglementierung? Haben Sie mal hochgerechnet, was Sie in sagen wir mal 30 Jahren noch so machen dürfen? Anschnall- und Helmpflicht, TÜV-ASU-Maut-Kat, Feierabendbier in der U-Bahn, öffentliche Telefonhäuschen und Briefkästen, kennen sie noch eine offene öffentliche Toilette. Früher durften wir noch pissen wie die Hunde?

Ausser im FKK-Bereich hat sich nichts, aber auch garnichts gelockert ... die Krawatten vielleicht ein wenig. Norbert Elias beschreibt sehr "schauderlich" in seinem Buch "Der Prozess der Zivilisation", dass dieser Prozess zwar in Wellen, aber doch wie die Zeit nur in eine Richtung verläuft. Zu Ende gedacht, werden zukünftige Generationen der Uterus erst garnicht mehr verlassen.


Wie Noëlle Burgi in der wieder mal so vorzüglichen Le Monde diplomatique zitiert:"Die Leute sind ja bereit, sich an die Gesetze zu halten", sagt die Angestellte einer Gemeindeverwaltung auf einer Kykladeninsel, aber wir wissen selber nicht, was wir ihnen sagen sollen. Wir kennen ja auch nicht alle neuen Vorschriften."

Eingekreist von Verboten im tiefen Dunkel des Schilderwaldes und den Untiefen der Paragraphen, wo sollen wir da noch ein Ich finden? Ich sag nur, Kopftuchverbot in Bayern, da packt sich die Zivilisation mal selbst an der Gurgel und verbietet sich die eigene Tradition, als Befreiungsgeste für eine Freiheit, die manche nicht wollen und auch nicht vertragen. Aber wieder ein Verbot. Von seiner Herangehensweise ist es eine Justiz der Ungesetze, einer Unjustiz. Mir geht es nicht um die Gesetze als solches, sondern um die Grundstimmung, die uns veranlasst, uns immer mehr einzuschränken, um im Endeffekt im eigenen Muff zu ersticken.
So muffig, dass jedes Gebot als laues Lüftchen wohlig um die Nase streicht. Dankbar inhaliert, besonders in Zeiten der Krise, wo strukturgebende Massnahme ihr Highlight feiern. An was man sich nicht so alles halten kann, das ist richtig toll. In der Sportart Festhalten ist die ganze Welt Weltmeister.
Dass es sich bei Geboten, jedoch nur um Verbote in Pubertät handelt wird ausgeblendet. Dass ein Gebot zumeist einfach heisst: tu es, sonst verbiete ich es dir. Ganz im Gegensatz zur deutschen Gesetzgebung, wird man bei den Zehn Geboten Gottes um die Strafgerichtsbarkeit scheinbar nicht herumkommen. Wo kann ich in dieser Instanz noch klagen? Es ist Fünf vor Zwölf, ich hör jetzt auf, den Rest können Sie sich denken. Gute Nacht.

Um mal ganz unpolemisch zu werden. Ich hätte meinen Frieden mit der fortschreitenden Zivilisierung der Menschheit, wenn ich mich des Gefühls erwehren könnte, dass es hier in eine ganz schräge Richtung läuft, vielleicht in der Art der dekadenten Endphase, einem letzten Aufbäumen eines Erkenntnisschrittes der zum Sterben bereit liegt. Die neuen Erkenntnisse schon alle am Tisch, frisst sich der Parasit, der Nutzniesser des verwesenden alten Systems/Paradigmas nochmals krampfartig in den Wirt, aus dessen Fleisch die tote Restmasse später nur schwer zu entfernen ist. Das liesse sich vermeiden.

Kurz und knapp gesagt -

Wieder mehr Verantwortung für den Einzelnen und im Gegenzug auch mehr Freiheiten. Das könnte der Grundgedanke einer künftigen, dem Selbsterhalt der Art mehr zugewendeten, konstruktiven Gesellschaft sein. Das ist auch schon alles vorbereitet, man lese und staune. Für waren es die Trickle Downs der Quantenphysik, die zusammen mit der herkömmlichen Philosophie ein geeignetes Gerüst bilden, den alten Schwachsinn zu beenden und den neuen zu starten. Warum nicht mal ein Sabbatical für die Parlamentarische, was Belgien kann, kann Gross-EU allemal, kleiner Scherz. Belgien fühlt sich für mich so unangenehm an, dass ich lieber bei den alten Griechen leben wollte. Kleiner Scherz. Es geht nicht um die Macht dem Volke zurück. Die, will man Elias glauben schenken, scheint zentrifugal/zentripedal hin- und herzuwechseln zwischen Volk und Herrscher - wobei es durchaus mal wieder Zeit für zentripedal wäre! Es geht um die Entwicklung des Kettenhemds der Zivilisation, die immer feinmaschiger und lückenloser wird. Ein aus dem Einheitsbrei geschaffener neuer Golem, Über-Golem, ein Übermensch, der so zivilisiert, dass man sich die Fernbedienung sparen kann. Ich seh das mit werdendem Alter auch immer deutlicher, wie gelassen manche Beschneidungen des Ich und andere Unverschämtheiten der Zivilisation hingenommen werden. Es ist weit seliger, Dinge freiwillig zu tun, als zu funktionieren. Selbst dieser Gedanke scheint nie dagewesen zu sein. Für mich als hartelinie ist da, von rein technischer Seite her gesehen, nur eine Lösung möglich. Auf einer Linie über dem Abgrund gibt es ausser der Linie nur Abgrund - vorwiegend natürlich darunter. Und für den unilinearen Prozess der Zivilisation gibt es auf der Linie keinen Platz mehr. Nochmal Vitalfunktion prüfen und in den Abgrund stossen, ehe es zu faulen beginnt, das (Paradigmen-)Aas und neue Geier anlockt.
Zivilisiert, klar. Altbewährtes behalten, wir wären ja blöd. Aber es muss auch mal wieder etwas erlaubt werden dürfen.

PS: Der Prozess der Zivilisierung ist ein rotes Tuch für mich und ich sehe den Todfeind Nummer Eins. Vielleicht ist das seine einzig gute Eigenschaft, dass ich währenddessen all die anderen Scheusslichkeiten vergesse.


jean stubenzweig am 16.Dez 11  |  Permalink
Ich bitte um Vergebung.
Kein Mangel an Höflichkeit hat mich dazu bewogen, nicht hier, sondern bei mir drüben den Kommentar zu setzen. Er war mir so lang geraten, daß es mir als unfreundlich vorgekommen wäre, Ihnen Ihre schöne Hütte vollzudippeln.

Davon mal abgesehen, daß mittlerweile jeder Klick auf Ihre Seite mir pausenlos schwer zu beseitigende LSO-Kekse beschert, die mich nerven.

einemaria am 18.Dez 11  |  Permalink
... habe mal versucht, das Keks-Problem zu lösen. Hoffentlich ist die Keksdose nun leer ...

kriton am 19.Dez 11  |  Permalink
Kulturkritik macht mir ja auch Spass, aber...
Wenn wir Dirk Baecker glauben wollen, haben wir es derzeit - computerbedingt - mit dem Übergang von einer kulturellen Katastrophe in die nächste zu tun.

Demzufolge können wir ähnlich große Umwälzungen erwarten - oder sind mitten drin - wie beim Übergang von Sprache zu Schrift oder von Schrift zu Buckdruck.

Dass damit komplexitätsreduzierende Mechanismen einhergehen - alles wird reglementiert und kontrolliert - wird dann auch verständlich. Das erinnert sehr an die Zelebrierung der Rhetorik bei den Griechen oder die Zensurversuche der Kirche im Mittelalter.

Und so könnten wir weiterhin davon ausgehen, dass wir noch einige Jahrzehnte Entschleunigungsversuche, Kontrollbestrebungen, Qualitätsmanagement, politische Interventionen, Umweltaktionismus und ähnlichen Unsinn erleben dürfen.

Genießen wir doch einfach die mit diesem Übergang verbundenen Freuden: Die meisten Hobbys sind billig bzw. fast gratis, das WWW wird nie wieder so frei und unreglementiert kommunizieren wie heute, man darf zu so vielen Dingen Nein sagen wie niemals zuvor und hat ein gewisses Recht auf Exzentrik.

Vielleicht starte ich mal einen Blog, welcher sich der Kritik der Kritik widmet, also an der ganzen Nörgelei herum nörgelt.

einemaria am 19.Dez 11  |  Permalink
Freut mich, Sie, wherter Kriton, hier begrüßen zu dürfen. Und geradezu komplementär zu meinem sehe ich Ihren Ansatz der Kritik der Kritik mit Freude. Herzlich willkommen. Da werden Sie hier viel zu kritisieren haben. Nörgeln ist nämlich auch so eine Freiheit der Derzeit, bei der ich aus dem Vollen schöpfe - so lange es noch geht.

Aber der Gedanke, die Umwälzung doch einfach zu genießen, gefällt mir immer besser. Bei mir ist es im Moment allerdings eine Art Wasserwalze und ich Nicht-Fisch darin gefangen. Da werd ich mich für den luftigen Genuß erst ein wenig freischwimmen müssen. Es ist auch nicht so bitterböse gemeint, wie geschrieben. Schließlich folge ich aber dem Leitgedanken der hartenlinie und der ist nicht der schlichte Genuß.

kriton am 21.Dez 11  |  Permalink
Danke für den freundlichen Empfang,
"... folge ich aber dem Leitgedanken der hartenlinie und der ist nicht der schlichte Genuß"

...und mit einem Augenzwinkern: Selbst das ist wieder etwas, was diese Zeit des Umbruchs ermöglicht. Man könnte frohlocken, dass es nicht länger um ein Gleichgewicht von These und Antithese geht sondern nur noch um reines Kommunizieren, das seinen Halt in Mechanismen sucht, die erst noch gefunden werden müssen. Herrlich lustvoll!