Der Abgang des Abendlandes am Bahnsteig
Ich hatte jene Treppe, an der sich die Gesellschaft scheidet schon in einem meiner früheren Blogbeiträge angeschnitten, jenes Prisma der Schichtengesellschaft des Münchner Umlands, die unbewegte Bahnsteigtreppe. Während der vorangegangene Beitrag den Fokus auf die Sichtbarmachung von Behinderungen im beengten Raum legt, wollen wir heute das Augenmerk auf die der letzten Treppenstufe folgende Gentrifizierung richten - wo sich der Spreu vom Weizen trennt.

Wie bereits erwähnt, verliert sich die der City innewohnende Machtstruktur und Zivilisierung schon wenige Fahrminuten außerhalb, in der Zwischenwelt der Pendler. "Rechts gehen, links stehen" gilt in München ja bekanntlich nicht nur für Rolltreppen, sondern ganz umfassend.

In der Hauptstadt der Bewegung gilt diese Regel eigentlich nur für bewegte Stufen. Dennoch agieren Stadtmenschen in ihrem Herdentrieb nach einem der Produktivität folgendem Muster. Vielleicht mag die Singularität des Stadtmenschen eine tragende Rolle spielen, daß sie nicht weitschweifig besagte Ab-Gehwege blockieren, weil sie eben immer nur alleine unterwegs sind. Trotzdem achten sie in ihrem Bewegungsmuster auf unbewegten kaskadierenden Ab-wegen selbst als temporäre Gruppe scheinbar in ausreichendem Maße darauf, daß es andere eben manchmal eiliger haben. Nicht aus einem sozialen Trieb heraus, sondern aus der angeborenen Weisheit, daß andere dann mehr leisten, mehr arbeiten und dadurch auch mehr Steuern in die Gemeinschaftskasse zahlen.

Dem Umländer ist diese Tatsache offensichtlich nicht bekannt. Oder er bewegt sich in einer Gehaltsklasse, in der die Kapitalhäufelung bei Allgemeinkrankenkassen und der Ausbau von Kinderkrippenplätzen in Folge eines erhöhten Steueraufkommens nicht wirklich von Bedeutung ist.

Sei es, wie es ist. Weit verwirrender ist der mentale Totalausfall der Hinabgehenden bei betreten der ersten Stufe. Keiner scheint sich oben bereits darüber im Klaren zu sein, wo er unten hin möchte. Und so kommt aus unerfindlichen Gründen, bzw eigentlich aus genau jenem oben genanntem Grund, auf der untersten Stufe das Prinzip des Einfädelns zum Tragen. Will sagen, daß die Masse der Gehbehinderten beim Einstieg noch auf ihr Anrecht beharren, die Überholspur zu blockieren, um unten angekommen mit einer Komplettquerung alles zum Stillstand bringen. Entweder es handelt sich dem Gesichtsausdruck nach zu urteilen um großartige Schauspieler, oder der Gesichtsausdruck der totalen Ahnungslosigkeit ist wirklich echt und basiert tatsächlich auf einer fundamentalen Hirnlosigkeit.

Interresant ist für uns heute die bedeutungsschwangere Tatsache, daß in besagtem Vorort der Abschaum in den Wohnsilos zur Linken haust, während die Guten nach rechts ins Töpfchen kommen. Wir könnten daraus, den Fakt der Hirnlosigkeit vernachlässigend, schließen, daß es den gehbehinderten, finanziell starken, weil noch die volle Rente kassierenden Pensionären nicht wirklich darum geht, den Niedriglohnarbeiter auf der linken Überholspur aus der puren Lust heraus auszubremsen, oder daß er noch länger stinkend bis zur heimischen Dusche huscht. Es scheint sich vielmehr um einen Akt der Machtdemonstration zu handeln. Der von Altersbosheit strotzende Trupp von Rentnern will mit seinem Verhalten jeden Tag aufs Neue zeigen, daß selbst das Ausbremsen der steuerzahlenden Produktivkräfte im grassiernden Niedriglohnsektor im Hinblick auf die Steuereinnahmen nicht wirklich zum Tragen kommt. "Von euch schwitzen sich zwar bereits vier für einen von uns das Fleisch vom Knochen, und trotzdem scheißen wir auf eure Renteneinzahlungen ... weil unsere Rente inzwischen, vom Europäischen Stabilitätsfonds abgeschirmt, sicher in griechischen Staatsanleihen investiert liegen." Ich würde fast spekulieren, daß sich durch einen geschickt verbalisierten Fluch auf Griechisch durchaus noch ein Durchbruch auf der linken Treppenhälfte erwirken ließe.

Aber das ist rein spekulativ. Es ist einzig Waffelgewalt, die das Abschmelzen der Eisberge zu verhindern weiß, die jene zwei Bevölkerungsschichten in unserem Vorort noch trennt. Wie die Welt Karl Valentin mit dem Satz "Früher war die Zukunft auch besser." wiederholt, weil eben alles schon gesagt ist. Nur noch nicht von allen.


jean stubenzweig am 23.Sep 12  |  Permalink
Das scheint mir
zwar nicht unbedingt eine Charakterisierung Rand-Münchens zu sein, sondern eher ein Bericht zur Lage der Nation. Aber als ehemaligen Anrainer hat es mich naheliegender als sonst amüsiert. Vergessen sein darf nicht, daß ich zur Altersgruppe der Blockierer gehöre. Aber ich stehe zur Hauptverkehrszeit dennoch nicht unaufhaltsam im Weg herum.

einemaria am 23.Sep 12  |  Permalink
Sie sagen es
Das Erschreckende ist, daß man den Vorort garnicht mehr verlassen kann, innerhalb der Nation. Die Asoziologie wird eines der nationalen Hauptmerkmale - die Wissenschaft der Opferschändung, wie in der Rentenbeitragszahlung für Dummies beschrieben. Und gegen wen richtet sich die Reaktion? Gegen jene Prekariatsrentner und -gruppen, die sich auf Treppen und in öffentlichen Verkehrsmitteln noch begegnen, also nicht in der Lage, diese zu umfahren. Erfahrungsgemäß trifft es im Rahmen dieser Asoziologie selbstverständlich immer die Falschen.