Gramsci - heute im Sonderangebot
Und wie sie rasseln, die Äquivalenzketten, eine potenzielle Einheit von Schichten und Klassen, die es so noch selten gegeben hat. In einer Gesellschaft, die ihre Soziologen und Mathematiker Taxifahren läßt, wo sich ehemalige Arbeiter und Intellektuelle in den gleichen Lokalitäten treffen, ihre Wäsche in die gleichen Waschmaschinen werfen und in den gleichen Vorzimmern Schlange stehen, rückt zusammen, was nicht nur Gramsci gerne zusammen gesehen hätte.

Prekarisierte Wischmobs treffen auf prekarisierte Laptops und expandieren - sofern er zur Verfügung steht - jenen Diskurs zu einem dominantem Horizont sozialer Ordnung. Selbst wenn man sich gegenseitig zuweilen versehentlich das Bier umschüttet, weil es mit so viel Prekariat ausgesprochen eng wird in der Kneipe, wird doch deutlicher, daß es nicht die Arbeitslosen sind, die dem Steuerzahler den letzten Heller aus der Tasche ziehen.

In diesem Rahmen betrachte ich auch meinen heutigen Aldi-Einkauf. An einem jener Orte, wo nicht besonders viel gesprochen, sondern vorwiegend auf der Ebene der niedrigsten Beweggründe kommuniziert wird.
Als ich an der Kasse nicht einen Betrag, sondern einen Namen zu hören bekomme.
"Raskolnikoff!" sagt die Kassiererin und blickt mich ein wenig entgeisterst an.
Ich als prekarisierter Wischmob reagiere ein wenig träge. "Raskolnikoff," sagt sie und blickt aufs Fließband. "Sicher kennen Sie den. Dostojewski!" Ich bin mir nicht sicher, ob es sich um eine jener russischen Telepatinnen handelt, die sich im Pre-Crime-Sektor beruflich niedergelassen hat, oder nur um eine witzige Bemerkung. Verlegen stehle ich mich davon, voller Schuld und doch ohne Sühne, denn irgendwie hätte ich diese Art des gehobenen Einkaufens, des literarischen Shoppings, gerade hier nicht vermutet.

Vielleicht gehe ich in meinen Mutmaßungen und meiner positiven Einstellung etwas zu weit. Vielleicht handelt es sich schlichtwegs um eines jener Computerprogramme, die mir aufgrund meines Einkaufverhaltens Buchvorschläge macht. Vielleicht bekomme ich mit dem Einkaufszettel nun auch gleich einen Rabatt bei Amazon.com. Ich aber suhle mich abends in billigem Birnenschnaps und in dem belesenem Charme dieser Verkäuferin, während ich nun nicht einer alten Dame den Schädel, sondern für meinen Kamin das Holz spalte. Ihr Einsatz, Herr Gramsci.


jean stubenzweig am 06.Sep 12  |  Permalink
Meine Güte,
Herr Einemaria, beinahe hätte mein hektisches, hysterisches Lachen das Schnapsglas umgestoßen, daß ich für Gramscis Wohlsein bereitgestellt hatte.

Eine kritische Anmerkung inhaltlicher Art habe ich dennoch: Mathematiker fahren nicht wie Soziologen Taxi. Die gehen zur Bank. Nicht, um sie auszurauben, sondern um für ihr arbeitgebendes Haus günstige Finanzierungsmodelle zu errechnen.

einemaria am 06.Sep 12  |  Permalink
... nicht alle. Manche schaffen es noch ins Lehramt für die Hauptschule, manche bis zur Hausaufgabenhilfe. Aber bei weitem nicht alle haben Platz auf der Bank, auf der auch das Geld liegt.
Aber vermutlich haben Sie Recht. Selbst der Taximarkt ist heute so heiß umkämpft, daß es viele Intellektuelle nicht mehr schaffen in diesem mechanischem Gewerbe den Gasfuß reinzubekommen.

Danke, daß Sie kein Wort über die Qualität des Birnensaftes verloren haben. Hab ihn für medizinische Zwecke gekauft ...

dhonau am 07.Sep 12  |  Permalink
@hegemonialität + äquivalenzklasse
"Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (1991: Kap. 3) haben gezeigt, dass Hegemonie maßgeblich über die diskursive Produktion von „Äquivalenzketten“ organisiert wird."

in der formulierung offenbart sich meines erachtens eine altlinke theorieschwäche: muß es heißen: 'organisiert wird' oder 'sich organisiert'?

machterhaltung ist ein zumindest quasinatürliches phänomen. dort, wo hinreichend viele teilnehmer auch der unterpriviligierten an der "bananenseite" hinreichend stark partizipieren, und wo darüberhinaus diese "korruptionsenergie" hinreichend viele erreicht, sind die präformierenden strukturen für solche "äquivalenzketten" (es würde fast genügen von IDEOLGIE zu sprechen) schon gegeben.

ist ein system stark genug, bleibt es am leben.

dabei spielt die frage der gerechtigkeit eine vergleichsweise geringe rolle.

so könnte man ja sagen: wer in systemen, priviligiert etwa durch ausbeutung anderer systeme, sein mehr oder weniger bescheidenes dasein fristet, durch äquivalenzklassen konsensualisiert, um diese terminologie aufzunehmen, wird deswegen nicht erreichbar sein, weil er seine korrumpiertheit nicht als solche empfindet, sondern seine "dumpfheit" als adresse aushängen hat, unter der er nicht zu erreichen ist.

der überall siegende kapitalismus ist natürlich ein wahnsinn, aber solche altlinke obsoleten theorien, mit denen unserer meinung nach nur verlustpositionen agiert werden, kratzen ihn nicht ein bißchen. die "korrumpierende" kraft des kapitalismus ist und bleibt seine stärke. ob man da jetzt äquivalenzklassen oder andere verbrämungsetiketten erfindet, bleibt für die verführer wie die verführten unerheblich.

einemaria am 07.Sep 12  |  Permalink
Altes neu geordnet
Verstehen Sie mich nicht falsch. Mir wurde der Gramsci ein wenig unsacht auf den Tisch gepfeffert. Im prosaischen Kontext von einer eher asozialen Gruppe, den Handlangern des Terrors. Me, myself and I spüren in jeder Organisation eine strategische Dezimierung von Meinung und Singularität für ein Ziel, für eine zeitlich begrenzte Kooperation, um sich Vorteile zu verschaffen ... vermutlich immer auf Kosten anderer. Vielleicht läßt sich hier ein moralischer Faktor einweben, indem man die Gruppe der Geschädigten minimiert. Ein paar wenige werden zur Kasse gebeten. Ein Gegenmodell zum herkömmlichen Kapitalismus, der seinen Profit aus der Masse der Geschädigten herauswirtschaftet. Die Korruption bleibt die treibende Kraft. Aber wie es bei der von Herrn Stubenzweig erwähnten Reportage heißt: Für Korruption muß nicht unbedingt Geld fließen, wenn sich alle (Profiteure) einig sind.

Es muß sich bei einem angestrebten Profit auch nicht um einen finanziellen oder materiellen handeln. Es muß nicht das geräumte Bankkonto eines Herrn Mittal sein, um den eigenen Bekannten ein ausgedehntes Weihnachtsgeld zu überweisen. Es muß keine DDOS-Attacke auf Visa- und Mastercard sein, die deren Geschäfte zumindest kurzfristig aussetzt. Im Gegenteil. Vielleicht ist es vielmehr die Umorientierung der öffentlichen Meinung, ein weg-vom-Geld, eine Neuorientierung hin zu weniger als mehr. Mal nicht in die Arbeit, auf die Demo oder zum Frustkaufen gehen, sondern sich Erdbeeren vom Feld klauen, um selber Marmelade zu machen.

In meinem Film geht es allerdings darum, daß auch die sogenannten Rechten Gramsci lesen und mir hieraus zu erklären versuchen, welche Beweggründe es geben könnte, den Castor samt Gegnerschaft mit einer dirty-bomb über das Brachland des Kapitalismus zu verstreuen, mit Ideen an die Hand geben, mit welchen Mitteln sich noch unbekannte Kräfte in jenem Gerangel um die Hegemonie nach oben hieven.

Ziel und Zweck des Textes ist die Einordnung der Geschehnisse um die NSU und den BND im Hinblick auf den im Hintergrund laufenden schmutzigen Kleinkrieg, dessen Wurzelspitzen sich in meinen Augen historisch in der Zeit rund um den zweiten Weltkrieg verorten lassen und bis heute tief in unserer Gesellschaft verwurzelt sind. Es kommt als Geschichte, da sich der ein oder andere Teil so leichter und strafrechtlich unbelangt vortragen läßt. Weil es durchaus für das Verständnis von Nutzen sein kann, sich auch mal in das Gehirn des Täters einzuschleichen.

PS: Das Schöne an Gramsci ist, daß er, bei aller Hochachtung vor Lettre und le monde diplomatique, neben der Analyse auch den Versuch einer Handlungstrategie unternimmt. Sicherlich muß sie im Kontext des damaligen Diskurses gesehen werden. Das ist schon richtig. Vielleicht war sie aber für damals nicht so verkehrt. Im Kontext meiner Geschichte paßt Gramsci sich auch deßhalb schön ein, weil seine Zeitschrift "Ordine Nuovo" den gleichen Namen trägt, wie jene rechtsterroristische Vereinigung, der auch mein prosaischer Begleiter Vincenzo (Vinciguerra) angehörte.

dhonau am 07.Sep 12  |  Permalink
ja, das ist alles ...
sehr nachvollziehbar; wir, die dhonau-rentiers ... äh ... in spe, räumen gerne ein, daß wir uns zuweilen reflexhaft allergisch oder, wie wir in unseren nachbarkreisen gerne sagen, idiosynkratisch ungehalten verhalten. aber diese hegemonie- und äqivalenzketten-akrobatik kostet einfach nerven, wenn wir das zu unserer entschuldigung einflechten dürfen ...

einemaria am 07.Sep 12  |  Permalink
eine gesunde allergie
die mir nicht unbekannt.

So man sich dieser Links/Rechtstümelei in der Welt der Damenmenschen verschreibt, könnte man sagen: Wer von rechts geschubst wird, solpert nach links ... und vice versa.
Mit anderen Worten: das Wort Äquivalenzkette ist der natürliche Feind einer Äquivalenzkette. Eigentlich - nicht Sie - nicht idiosynkratisch, sondern einfach idiotisch. Aber es klingt so bedeutungsschwanger, daß man aus dem hintergründigem Nichts schon die Fehlgeburt des Gedankens schrei(b)en hört. Das lockt meinen Mutterinstinkt hervor und zack, ist es auf dem Bildschirm. Sie entschuldigen ... hoffe ich ... mich mit mir selbst. Dann sollte das so passen ... so kurz vor dem Bundesligawochenende.

einemaria am 07.Sep 12  |  Permalink
... oder
gewähren Sie mir in diesem Fall nicht den nötigen Idiosynkrasiekredit ;(%!:.

dhonau am 07.Sep 12  |  Permalink
lo-
go.