Donnerstag, 14. September 2017
Das Noagerlzelt manifestiert sich
Historische Koordinaten

1. Mai 1844, einhundertsechsunddreißig Jahre und 94 Tage bevor ich im Betonkoloss von Großhadern aus meiner Mutter Schoß kroch, zogen wütende Scharen der arbeitenden Bevölkerung – oder Hackler – durch die Münchner Straßen, zertrümmerten und zerstörten alles in ihrer Reichweite, inklusive oder insbesondere Schankstuben, öffentliche und behördliche Einrichtungen (siehe auch Erst der Krieg hat das Bier gebracht - und das Bier den Krieg). Der König, das Schwein, hatte sich an den Bierpreis gewagt und weil, wer hackln geht außer dem kleinen und dem großen Rausch recht wenig Freude an seinem Leben findet, hatte der bayerische Souverän damit etwas Hundsgemeines getan. Die Strafe für´s Ficken ist bekanntlich das ungewollte Kind, die Strafe für den Suff sind lediglich ein zwei Tage miserablen Katzenjammers. Und wenn auch beiderlei Lust oft miteinander einhergehen und auf den Kater die Bekenntnis zum Kind oder zur damals noch viel schmerzvolleren und gefährlicheren Abtreibung folgt, fühlten sich die Hackler – was eben die wenige vorhandene Lebensfreude anging – gehörig in die Enge getrieben.
Nach ein paar Tagen und als sogar das Militär nicht auf Seiten des Schweins hatte mitspielen wollen, war der Spuk vorüber und das Bier wieder zum gewohnten Preis zu haben. Wiedereinmal war klar, dass man den Hacklern besser langsam und stetig das Leben vermiesen sollte und auf all zu große Sprünge zu verzichten gut beraten sei.

Hamburg, Anfang Juli 2017. Alle wissen noch Bescheid, dazu muss nichts gesagt werden. Außer das Eine: da trafen sich die Herrscher der 20 reichsten Volkswirtschaften und diskutierten ein Minimalmaß an Kooperation, um sich die lästigen, armen Schlucker daheim und in der Restwelt vom Hals zu halten. Man muss nicht befreundet sein, um gemeinsame Feinde zu haben.

Später Juli 2017. Die deutschen Autokonzerne werden um etwas Ablass gebeten. „Lasst sie bluten! Aber nur ein paar Tropfen, weil meine Nichte und ich da angestellt sind.“ Dailmer, MBW, IDAU usw. hatten sich bei ihrer Preisbildung abgesprochen, ein Kartellverstoß. Nun ist Autofahren nicht gerade die beruhigende Sorte Rausch, die eine Belegschaft müde, dafür mit viel Zucker im Blut bei der Stange hält. Dennoch passt die kleine Preisgemeinheit ganz gut in unsere Reihe des Schindluders mit den hackler´schen Begehrlichkeiten. Wäre ja auch scheiße, wenn der Steinbrecher Toni mit dem gleichen Hobel in die Arbeit käme, wie sein Chef.


„Scheiße ändern“
(Zitat eines US-amerikanischen Bürgerrechtlers; im Original: „Change shit“)

Aufruf

Hackler aller Länder kommt zu uns und sauft umsonst! Wies´n umsonst ist die Devise und dass wir uns zurück ertrinken, was uns seit Jahrzehnten wucherhaft aus den löchrigen Taschen gezogen wurde.
Warum auf der Wies´n? Weil der Mensch ein Mensch ist und auf ein Neues den Sommer hinter sich lassen muss, um sich ein gutes halbes Jahr durch klirrende Morgenkälte und pissende Himmel in die jeweilige Maschinerie zu schleppen, sei es ein Büro, eine Fabrikhalle, ein Außendienst oder jegliche Form von Bildungseinrichtung. Es wird Winter und wenn das kein Grund ist, sich zu besaufen, dann gehe ins Fitnessstudio wer mag, der Rest geht auf die Wies´n und fordert sein Recht ein.

Und wenn die Ersten von den Verteidigern der Zapfhähne niedergemacht sind und die allseits verhasste Polizei den Übrigen die Knochen bricht, wir werden euer scheiß Bier vernichten, wie wir es immer getan haben und die fettleberigen Toten werden aus ihren Gräbern kriechen und kotbeschmiert alles zerreißen, was sich ihnen in den torkelnden Weg zu stellen wagt. Blut in den Biergärten, Häute und Fleisch in den Gassen und auf umgestürzten Bierkutschen. Wirte wird man heulen sehen und mit letzten Kräften die Barkassen und Aktienpakete in ihre offenen Bäuche stopfen, ins letzte Versteck.
Und wenn es nicht klappt, dann machen wir das 13. Zelt auf, das Zelt für die armen Schlucker, für die Habenichtse, für den Rest, eben unser Zelt – das Noagerlzelt.

Das Noagerlzelt

Vor dem oben angeführten historischen und zeitgenössischen Hintergrund und weil eben wieder mal kein Blut fließen wird, ein Bierglasgemetzel ausbleiben wird, führen wir die neue Kategorie des Noagerlzeltes ein. Dort wird die zurückgelassene Brühe der sechs angestammten Münchner Brauereien plus Käfer-Zelt und dieser anderen Sekt-Schleuder, deren Namen mir entfallen ist, vereint, den genuin Rauschinteressierten und vor allem den Rauschbedürftigen für lau, das heißt umsonst zur Verfügung gestellt.
Wir weisen schon im Vorfeld jede Verdächtigung der heimlichen Kooperation mit den Besitzenden vehement zurück. Man wird uns den lacken Rest nicht freiwillig und unentgeltlich überlassen. Schon gar nicht werden die Regulatoren des Geländes ein stinkendes, von Kotze, Pisse, Scheiße und Sexualsekreten überlaufendes Festzelt in ihrer Mitte dulden. Das Noagerlzelt ist eine metaphysische Institution, ist das Lallen im Subtext und das Torkeln der Dissidenten mitten unter dem fröhlich sich verarschen lassenden Pöbel.

das Wappen des Noag

(eine Gastarbeit vom Murmler Charlie)
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Der Noag - Interview mit einem Pestwirt
Wir erinnern uns: Ende der 1990er Jahre versuchte ein unlauterer Brauer und Prinz von soundso Einzug auf dem Oktoberfest zu halten. Der damals adoleszente heutige Wirt des Noagerlzeltes hatte seit einem Jahr einen Bock zu verdauen, den er mit der Abgabe seiner Wählerstimme an die Sozis geschossen hatte. Die Agenda 2010 war in der Mache und der Nochnichtwirt stand an seinem Fenster, schaute verdrießlich auf die Kreuzung Ridler- und Geroltstraße, als er den schwind´ligen Regensburger Tross aus einem Karren mit Bierfässern und zwei Dutzend halbstarker Bankkaufmannsgesellen anrücken sah. Der Prinz auf dem Kutschbock hatte wohl vor, hinterrücks und durch den Bavariapark auf der Wiesn einzufallen, was jedoch – der werdende Wirt am Fenster musste schmunzeln – kurzerdings von einer zweiköpfigen Polizeistreife unterbunden wurde. Prinz und Gefolge drehten – derlei Manöver waren nicht bedacht worden – unbeholfen und etwas empört auf der Ridlerstraße um und traten den Heimweg an.

Redaktion (R): Herr Wirt, Sie haben den missglückten Regensburger Sturm als prägend beschrieben?

Noagerlwirt (N): Ja, da war mir klar: „Die Taxler (Anm.: Regensburger Adelsgeschlecht) stellen sich saublöd an. Das mach ich besser eines Tages.“

R: Waren Sie damals betrunken?

N: Ich denke ja.

R: Aber Sie waren doch bereits auf der Wiesn vertreten?

N: Das schon, nur halt als Randerscheinung.

R: Hatten Sie einen Bubenstreich im Sinn?

N: Vielleicht. Aber du musst bedenken, das war Ende der 90er. Schröder und seine Gang sind ein Jahr an der Macht, ich werde bald daheim ausziehen müssen. Hartz4 hat zwar noch nicht seinen Namen, zeichnet sich aber am Horizont recht deutlich ab und bei meiner Studienwahl, würde ich mit 98 prozentiger Wahrscheinlichkeit daran teilhaben, früher oder später.

R: Sie wollten sich ein zweites Standbein schaffen neben der drohenden Stütze?

N: Du verstehst unseren Gedanken falsch. Wir vom Noagerlzelt verdienen kein Geld mit dem was wir tun. Bei uns gibt es nichts zu kaufen, wir sind der Abfall der Gesellschaft und wir trinken Abfall. Wer dazugehört, weiß dass er dazugehört...

Schichtbeginn

R: … oder sie...

N: Oder sie. (Schneidet die obere Hälfte einer Bierdose ab, schürzt die Lippen und trinkt vorsichtig den darin enthaltenen Rest) Du musst wissen, ich habe schon gewusst, wo ich dazugehör und wo ich mal landen würde, damals mein ich.

R: Ihnen war damals klargeworden, dass Sie zur Unterschicht gehören würden? Aufgewachsen sind Sie ja recht behütet.

N: Behütet oder nicht, in meinen Adern fließt die Soach, verstehst Du, das ist eine Einstellung zum Leben und zum Trinken, die in unserer Familie liegt, da kannst noch so viel Gymnasiast sein oder hochbesteuerte Eltern haben.

R: Noagerlsaufen ist also kein Phänomen der Unterschicht?

N: Doch, schon. Aber nicht nur. Wie halt das alte Sprichwort sagt, kriegst du den Hund von der Straße weg, aber niemals die Straße aus dem Hund heraus.

Der Jägerstand

R: Ein altes Kleinbürgerthema.

In einem Bierglas auf unserem Tisch schwimmt ein Zigarettenstummel. Eine Fliege versucht sich aus ihrem nassen, gelben Grab an der Kippe hoch ins Trockene zu arbeiten. Zappelnde schwarze Beinchen im falschen Element, verklebte, aderige Membranen durchsichtiger Flügel, der Stummel rollt mangels Reibung an der Oberfläche auf der Stelle. Tretmühle im bierigen See, der leicht dezentrale Nikotinfleck eiert im Kreis, das Insekt zu dumm, sich Hoffnung zu machen und zu dumm, um aufzugeben. Der Noagerlwirt schaut versonnen zu, greift dann mit der Finesse eines Routiniers und mit spitzen Fingern ins Bier, schnippt Fliege samt Kippe in ein Gebüsch. Er trinkt.

R: Zurück zum Historischen. Es hat ja Tradition, dass nur in München ansässige Brauereien als Lieferanten für die Festzelte in Frage kommen...

N: … Und die Zipfln machen Preisabsprachen! Heuer an Elfer für die Mass. Des gibt’s nur beim Fußball, an Elfer, des kamma gar nimmer aussprechen. Der Zehner war schon eine Gemeinheit, aber der g´schissene Elfer...

R: Sind Sie betrunken?

Der Noagerlwirt blickt in eine nur ihm bekannte Ferne, in oder hinter dem Bretterzaun in meinem Rücken.

R: Also die sechs Münchner Brauereien. Wollten Sie ´99 eine siebte eröffnen oder war die Idee, sich Raum im Tumult zu verschaffen damals schon auf dem Tisch? Kann man vom Noagerlzelt als Idee sprechen? Wo es doch immer recht klein, fast unsichtbar war. Eine Idee, die heuer endlich Gestalt annehmen soll?

N: Es ist keine „Idee“. Ich sauf Noagerl seit ich klein war. Meine Eltern haben Noagerl g´soffen und meine Großeltern väterlicherseits. Davor gibt es keine Zeugnisse, weil die Urgroßeltern aus einem entlegenen Tal im Südosten stammten und da hatte man keine so genauen Kenntnisse vom Umgang mit dem Erbgut oder der Schrift. Einfache Leute, gute Christen und damit vermutlich auch entschiedene Gegner des vergossenen Tropfens. Aber das sind Hypothesen.

R: Das Noagerlzelt als Vermächtnis?

N: Genau! Ein Vermächtnis. Zudem ein Politikum. Die Wichser ziehen uns Trinkern den letzten Heller aus der Tasche, nur weil wir auch mal Flagge bekennen und mit den ganzen Anderen Zipfin zusammen trinken wollen. Möchte an der Stelle auch bescheidenst auf unser diesjähriges Manifest verweisen!

R: … Das sich, wie wir wissen, recht gewalttätig ausnimmt. Aber dazu später. Wie haben sich, sagen wir, Ihre Großeltern auf dem Oktoberfest verhalten? Haben sie auch Noagerl getrunken?

N: Mein Opa hat es geschafft, in Stalingrad an einer Leberzirrhose einzugehen. Das ist von ihm bekannt. Was mit ihm sonst vor und während dem Krieg war, da kann sich keiner dran erinnern. Meine Oma hat brav ausgeharrt, im Luftschutzkeller die Noagerl zamgsoffn, dass´s sie vor die Tür gsetzt ham. Da war´s dann gsessn, ohne Bier im Bombenhagel.

R: Unschön.

N: Ja, graißlich, aber die Zutzla im Keller san dastickt. Wie der vegetarische Obernazi dann tot war und es überhaupt mal wieder eine Wiesn gab, da is´s dann mit falscher Brosche und Dirndl umananda spaziert (Anm.: als Bedienung getarnt) und hat die Noagerl zamgsoffn.

R: Und in dieser Linie steht auch Ihre Firma?

N: Wir sind eine Bewegung!

R: Ein belegter Begriff, gerade hier in München.

N: Glei schehbats! Du bist a belegt! Man kann sich ja wohl noch anders bewegen, als wia im braunen Leibal und a Nazi.

R: Und doch haben sie Ordner mit Armbinden und Lederriemen quer über der Brust. Da kommen Erinnerungen hoch.

Der Kapellmeister vom Noagerlzelt

N: In unserem Geschäft muss man aufpassen, da gibt’s halt schnell mal eine Rauferei. Außerdem leisten wir integrative Arbeit, was unsere Ordner angeht. Wir holen die Burschn morgens von der Donnersbergerbrücke, geben ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit – eine Armbinde halt – und eine Aufgabe: da wird ja nicht nur gerauft, sondern auch viel geklaut, auf der Wiesn. Und weil bei uns besonders hart
gegen das Bier angearbeitet wird, geht da einiges verlustig. Und die Lederriemen verstehst Du falsch! Unsere Securities haben halt ein Faible für diese rechteckig-hochformatigen
Herrenhandtaschen.

Die NOAGSEC - da Fotzn Sepp

R: In Ihrem Geschäft? Also doch was profitables?

Der Wirt entreißt mir mein Getränk und leert es in einem Zug.

R: Die Noagerlbewegung gab es also schon immer. Wie kommt es, dass Sie jetzt auf ein Mal die Notwendigkeit eines prominenteren Zeltes verspürt haben?

N: Ich bin zwar Wirt, aber wir sind eine Bewegung ohne Anführer, eine kopflose Bewegung. Hast Du Bataille gelesen, Acéphale? Da kannst nachschaun. Unser Zelt hats schon immer geben. Halt schräg am Hang und recht klein auch. Des
war immer des Besondere: kleiner wie der eigene Biergarten. Viel kleiner. Die meisten Gäste haben das Zelt gar nicht bemerkt und haben sich direkt im Garten niedergelassen.

R: Verständnisfrage: sprechen wir vom sogenannten Kotzhügel?

N: Ich sprech und du hältst dei Maul! Die Statik war immer schwer zu bewerkstelligen, weil wir unsere Fundamente nicht zu tief in den Hang eingraben ham wollen, da hätt´s Scherereien gebn. Oft ist also – bei gut besuchtem Biergarten hangaufwärts – unsere ganze Konstruktion unter dem Druck der schleimigen Massen abgerutscht, in Richtung Lieferanteneingang vom Hacker.

R: Es gab da öfters Negativschlagzeilen, wenn die liegenden Gäste unter die rutschenden Bretter geraten sind.

N: Seit ein paar Jahren werden die Inhaber der Liegeplätze mit Zeltheringen am Hang gesichert. Aber solche technischen Vorgänge schmälern halt schon die festliche Stimmung.

Da Wiesnflacker Ignaz ... auch genannt "da Haring"

R: Also ist der Umzug auf die Hauptachse vis-a-vis Hacker und Augustiner baulich bedingt? Merkwürdig aber, dass man Sie all die Jahre im gefährlich rutschigen Zelt hat gewähren lassen, nur bei dessen Fundamentierung Widerstände in Position gebracht hätte.

N: Des hat nix mi´m Baureferat zum doa. Unterm Hang liang de oidn Bierkella verschütt und da woi ma ned ostecha. Des is besser, de Kellerleit san auf unsrer Seitn. De mäng des ned, wamma eana ins Dach einabetoniert.


An dieser Stelle musste das Interview abgebrochen werden. Der Noagerlwirt – von Freunden und Feinden bewundernd „da Noag“ genannt – hatte einen Grad an Alkoholisierung erreicht, der seine Rede undurchdringlich, die Artikulation zu schwammig machte für weitere Befragungen. Wer die „Kellerleute“ sind und warum man mit ihnen in Allianz zu gehen beabsichtigt, bleibt zu klären. Es scheint mir, „da Noag“ habe jenen diffusen und aufbrausenden Charakter, wie er typisch für genialische Künstler und durchtriebene Säufer ist.


Ein Spielfeldrand in Ramersdorf anderntags. Die Abmessungen des Feldes regulär und etwa so groß wie der Rasen in der Arena des heimischen Erstligisten. Bandenwerbung gibt es auch, nur sind die reklamierenden Firmen lange aus dem Branchenbuch getilgt. Der Noagerlwirt sitzt in sportlichlegerer Aufmachung am Tresen eines Imbisswagens, den Schuhen nach, fühlt er sich hier zu Hause,
der Jogginganzug riecht stark nach Waschpulver. Ein Geruch, der sich mit der Alkoholfahne des Noag zu einer Priese vermischt, die mir Jugenderinnerungen an den Chemieunterricht, an schlechtsitzende, weiße Kittel und den Lehrer Pötschner in die Nase treibt. Eine schöne Zeit, besonders der Magnesiumbrand war beliebt.
Der Wirt reicht mir ein Buch: „Da Noag und i – eheähnliche Jahre mit einem Pestwirt“, Moewig Verlag 2005. Ich nehme das Geschenk in Empfang, halte es für eine Reparation, mit Bezug auf die Ausfälligkeiten bei unserem letzten Gespräch.

R: Bei unserem letzten Treffen war wenig Zusammenhängendes aus Ihnen herauszubringen.

N: Ich war da unter großem terminlichen Druck gestanden.

R: Wiesnvorbereitungen?

N: Nein, Spezln. Man kennt mich und das soll so bleiben. Da wird an langen Tagen schon mal öfter auf´s gegenseitige Wohl getrunken. Das hilft übrigens, meine Oma ist recht alt geworden.

R: Sie arbeiten an Ihrer Unsterblichkeit.

N: Genau!

R: Und Sie haben´s ja auch schon in die Literatur geschafft.

N: Ja, über des Buch derfst gern schreim. Mei Oide hat da über unsere gemeinsame Zeit philosophiert und ich hab sie auf Tantiemen verklagt. Eigentlich geht’s in dem Schinken nämlich nur um mich und ab und zu vielleicht um ihr Sodbrennen oder den Durchfall.

R: Zurück zum Thema. Das Zelt gab es schon immer, haben Sie gesagt. Und dass die Schräglage am Kotzhügel billigend in Kauf genommen worden ist, von Ihrer Seite, wie von der Festleitung bzw. vom Baureferat.

N: Ja, das stimmt. Und dass wir um gute Nachbarschaft mit den Kellerleuten bemüht sind.

R: Sie erinnern sich an das Gesagte?

N: G´hört zum Beruf.

R: Wer sind die Kellerleute?
N: Das darf ich nicht sagen. Soviel vielleicht: die ham da schon gewohnt, lang bevor es ein Oktoberfest überhaupt gegeben hat. Weißt, des mit der Unsterblichkeit? Ich sag´s jetzt mal so: die trinken besonders fleißig auf ihr gegenseitiges Wohl. Fleißig und seit Langem.

R: Unterm Kotzhügel?

N. schweigt, sieht mir mit bäuerlicher Schläue in die Augen, seinen Wissensvorsprung unausgeführt im Raum stehen zu lassen. Ich bewundere diesen Mann, aber für solches Getue hasse ich ihn. Er war nie Bauer, er hat von der Welt nichts gesehen, außer ihren halbleeren Gläsern und da sitzt er hier am Imbisswagen und mimt den Erfahrenen.

R: Und warum nun der Umzug ins Kerngebiet auf der Hauptachse zwischen Hacker und Augustiner?

N: Wir sind katholisch geprägt, wenn wir auch nicht alle gleichermaßen gläubig sind. Es gibt Mysterien, die kann keiner erklären, selbst der Papst nicht. Ein solches Mysterium ist, dass wir mit unser´m Zelt ins Kerngebiet drängen.

R: Aber es muss doch irgendwer gesagt haben „Freunde, heuer gehen wir da und da hin“ oder „Es ist genug, wir Leute vom Noagerlzelt haben die Rutschpartie am Kotzhügel satt, wir sind eine Institution auf der Wiesn und als solche beanspruchen
wir jetzt einen anständigen Platz für unser Festzelt“. Irgendwer muss doch tätig geworden sein.

N: Tätig geworden is der Brennsuppn-Hias, aber ich hab mir gedacht, der wird schon wissen und wenn er´s nicht weiß, dann ist er halt berührt worden vom chaotischen Element oder von Gott oder von sowas.

R: Vielleicht von seiner Orientierungslosigkeit. Und von der Ahnungslosigkeit. Schon jetzt im Vorfeld sind Ihnen und Ihren Leuten ja massive Repressalien angekündigt worden.

N: Das stimmt, besoffen war der Hiasl schon, als er seinen Plan gezeichnet hat. Über mehr reden wir ja hier nicht. Das steckt alles noch in der Planungsphase.

R: Dafür ist aber der Ärger, dem Sie zur Zeit ausgesetzt sind, schon recht real.

N: Den Noag erschüttert nix. Außer vielleicht eine junge Liebe, die nach vielen Jahren einem ein Kind anhängen möchte. Wie er das so etwas versonnen vor sich hin sagt, knibbelt der Wirt den Dreck unter seinen Fingernägeln hervor, beäugt ihn zufrieden und schiebt ihn sich in den Mund.

R: Was fängt der Brennsuppn-Hias mit seinem plötzlichen Ruhm an?

N: Nix. Der schleicht nach wie vor unbemerkt an die Lagerstätten der Vagabunden unter den Isarbrücken und säuft denen ihre Weinpackerl leer.

R: Er trinkt Wein?

Der Brennsuppn-Hias siniert, wo er was zum Trinken kriegt ...

N: Wir sind ja kein Orden, aber wenn wir einer wären, dann würde das Gelübde auf Noagerlsaufen lauten. Da sind wir katholisch. Wir spezifizieren da nicht näher. Lassen Schlupflöcher für Leute wie den Hias.

R: Ihre diesjährige Spezialität wird ihm gewidmet werden, wie ich höre.

N: Die Brennsuppn-Mass.

R: Im Preis vermutlich auf einer Stufe mit der vorjährigen Soachhellen, umsonst. Was habe ich mir darunter vorzustellen?

Da Noag krempelt seine Ärmel hoch, übergibt sich in einen Mülleimer in Eiswaffelform am Tresenende. Darauf nimmt er einen Schluck aus meinem Radler, gurgelt, spült sich den Mund und spuckt das Getränk zurück in mein Glas. „Da“ sagt er. „Normal halt kein Radler, aber in der Not...“
Ich bin tief beeindruckt vom Können dieses Mannes, von der professionellen Contenance, die er selbst in so fordernden Momenten wie gerade eben zu wahren weiß. So will auch ich die Professionalität wahren und weiter meine beabsichtigten Fragen platzieren.

Da Backpfeifn Alois bei der Standentlastung

R: Danke. Bevor wir weiter Hypothesen spinnen, wie Ihre Aufstellung dem diesjährigen Oktoberfest standhalten wird und ob man Sie nun akzeptieren wird, wenn die Wiesn erst mal läuft, möchte ich nochmal in der Zeit zurückgreifen. Sie haben sich als Bewegung bezeichnet.

N: Als den Noag.

R: Aber Ihre Gruppierung, die Leute vom Naogerlzelt, das ist eine Bewegung?

N: Richtig, eine Abwärtsbewegung.

R: Und Sie haben jegliche Bezüge zu irgendwelchen Nazi-Gruppen von sich gewiesen. Wie hat sich denn Ihre Bewegung im Dritten Reich verhalten? Hat man Sie verfolgt?

N: Also meine Großmutter war nebenberuflich ja auch als Spiritistin tätig und hat da ganz gute Kontakte zu den Kellerleuten geknüpft. Angeblich war sie auch mal drunten, aber da gibt’s nichts beweiskräftiges dazu. Nein, insgesamt waren wir mehr so im Untergrund tätig. Die Nazis waren ja auf gesunde und disziplinierte Truppen aus, da waren wir schon ein Dorn im Aug.

R: Aktiv Widerstand hat aber niemand aus Ihren Reihen geleistet.

N: Das nicht, aber man hat uns als moralisch- und wehrzersetzend eingestuft.

R: Wobei ihr Großvater in Stalingrad war.

N: Richtig. Quasi eine Strafexpedition. Da war er wohl versprengt recht bald und dann auch tot.

Angemerkt sei hier, was aktenkundig ist: dass Großvater Noag wegen Trunksucht regelmäßig auf Himmelfahrtkommandos geschickt worden ist, von denen er meist betrunkener als bei Aufbruch zurückkehren sollte. Einmal war er längere Zeit verloren und man glaubte sich bereits seiner befreit, als man von erbeuteten russischen Gefangenen im Verhör erfahren sollte, es gebe einen „singenden Deutschen, der sich untot oder gesegnet vom Glück der Säufer“ in einer ausgebombten Weingeistfabrik halte. Tage später kam der Großvater Noag mit einem wüsten Stechen im rechten oberen Bauch zu seiner alten Kompanie getaumelt, etwas auf bayerisch fluchend, das keiner der anwesenden westfälischen Sanitäter übersetzen konnte. So sollte der Noag Senior in Stalingrad bleiben.

N: Von den anderen haben´s einige direkt vom Dachauer Volksfest ins KZ geschafft. Das weiß man ja, dass die Nazis keine anderen Bewegungen geduldet haben, als die ihrige. Zett Beh der Bröckerlbier-Ägedi hat sich in Dachau wie jedes Jahr durch die Massn der Leut gewildert, da hebt einer am Tisch plötzlich doch seinen Kopf und hat a schwarze SS-Uniform an. Im KZ hams eam dann an Himmlermass-Ägedi genannt.

R: War er dort weiter tätig?

N: Der Ägedi hat´s im Blut ghabt. Logisch hat der weitergoabat. Nur hat´s halt nix gebn und er war mehr so metaphysisch tätig. Aber auch hier wieder: das Spirituelle soll ma nia unterschätzen. Er war der Einzige von unseren Leuten, der Dachau überlebt hat und zwar mit ara Bierwampm vom andern Stern.

R: Wie sah das aus, das metaphysische Trinken?

N: Er hat allabendlich, wenn das Licht aus war, ein paar Gleichgesinnte um seine Pritsche versammelt und dann haben sie ihren Stammtisch abgehalten. Ab und zu sei irgend a Preiß oder dessen Gespenst dazugestoßn, den hams dann verjagt, ham kartlt, auf die Arbeit gschimpft, auf die Preißn eh und halt jede Menge ideelles Bier gsoffn.

R: Keine Naogerl?

N: Nein, wenn nix mehr da is, dann trinken wir voll. Katholisch halt, die letzten werden die Ersten sein und wenn wir erstmal Geistermassn saufn, dann aber nurmehr volle. Jedenfalls der Himmler-Ägedi hat´s gschafft, sich so dermaßen von seinem
Stammtisch im KZ verzaubern zu lassen, dass er aus der Geschichte mit ara Fettleber und gwampat das ois zspät is außagonga is.

R: Konnte das wer bezeugen?

N: Nein, aber der Ägedi war a ehrliche Haut. Zudem gibt’s Aufnahmen von ihm auf der ´46er Ersatzwiesn bzw. in unserm Zelt am Hang. Überlebt hat ers und fett war er auch.

R: Wenn es wahr ist, was Sie sagen, dann wäre Ihr Verein …

N: Truppe! Wir sind Krieger, also eine Truppe.

R: Dann wäre Ihre Truppe der einzige Geheimbund, dessen Verfolgung im Dritten Reich undokumentiert geblieben ist. Inwiefern sehen Sie sich als Kämpfer?

N: Wir kämpfen gegen das Bier an.

R: Aber Sie trinken es doch gerne?

N: Eine Hassliebe, die jeden Krieger ein Stück weit mit seinem Feind verbindet. Das ist Nahkampf, eine sehr intime Erfahrung. Das Würgen um Leben und Tod. Jedenfalls die Nazis, die haben uns nicht erkannt. Ich sags ja, eine Bewegung ohne Kopf, eine kopflose Bewegung.

Der Noag und ich sehen uns in die Augen, er wissend, ich etwas abschätzig. Ich bestelle mir noch ein Bier bei der Frau vom Imbisswagen, reiche dem Noag mein Noagerl, wir trinken. Und wir stehen da, in Ramersdorf am Fußballfeld, wo keiner spielt. Später abends dann Nachricht vom Noag. Er hat also Internet. Er rät mir ab, am ersten Wiesnsonntag aufs Oktoberfest zu gehen, das ist alles.


(eine Gastarbeit vom Murmler Charlie)
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