Samstag, 6. Oktober 2012
Kotzen, scheißen, pissen - die Über-Wiesn und das Ich
Begegnung mit der 3.Mittelmaß



Die Begrifflichkeit "Oktoberfest" mag verwirren, denn zum einen findet es vorwiegend im September statt, was schon zu Beginn viele zu spät kommen läßt, und zweitens hat es mit "fest" nicht viel am Sepplhut.

Es handelt sich vielmehr um die Huldigung von Flüssigkeiten und ihren Verdickungen. Eine Zeit, die einzige, in der auf den Straßen Münchens das Essen gratis verteilt wird - und zwar in Massen von Maßen für Massen. Was sich für 10 Euro der Liter und das Stück so räuberisch erwerben läßt, wird die Stadtgrenze nicht verlassen, denn was rein geht, muß auch wieder raus. Die vielen Gäste sind eigentlich nur eingeladen, um an dem Prozeß der kurzfristigen Anverdauung teilzunehmen. Eine Bringschuld ohne Mitnahmemöglichkeit sozusagen.
Die Wiesngewinner - da Großbauer und sei Bua

Es ist die Jahreszeit in der jeder Straßenköter Münchens mehr Anstand und Zivilisationsgedanken an den Tag legt als die Millionen Wesen, die nach eigenem Ermessen an der Spitze der Evolution stehen. Wiesn, oder Oktoberfest wie es der Ortsfremde nennt, ist eine Kunst, die erst noch verstanden werden will. Eine archaische Grundform, eine der letzten, die sich bis heute erhalten hat, weil sie sich auf eine aufdringlich subtile Art und Weise mit der jeweiligen Staatsform mitentwickelt hat.

Das Zelebrat der Folklore, gekoppelt mit der Vernichtung des Althergebrachten.

Die Freiheit der Selbstzerstörung als weltweit propagierte Neuform der Anarchie.

Der mit der beschleunigten Prozentzahl der Promille und Stammwürze propagierte Frontalangriff auf das Denken und auf jegliche Form von Bewußtsein, kristalisiert sich heraus als ideales Mittel, dem freien Geist und der Anarchie den letzten verbliebenen Wirbel zu brechen.

Den Besucherzahlen nach zu urteilen spiegelt sich in diesem größten, staatlich verordnetem Massenbesäufnis eine supranationale Denkweise wieder, die danach giert einen Sinnesrausch ohne Sinn zur Höchstform zu führen. Der Ansatz hierzu findet sich prinzipiell in den meisten modernen Konsumformen. Das bullemische Grundelement des Kapitalismus. Fernzusehen ohne sich anderntags zu erinnern, um was es ging, die gekaufte Kleidung, die mit jeder Modewelle entsorgt und als Schwemmgut in Afrika wiederverdaut wird, ganze Einkaufswägen von Essen, die inzwischen vom Regal nur noch durch unseren Kühlschrank am Magen vorbei in den Müll wandern. Essen, das es nie aufs Clo geschafft hat.

Das Mittelmaß hat eine neue Erscheingungsform. Es geht darum, den Exzess zu beschleunigen, den Geist zu extrapolieren und das Über-Ich aus dem eignen Körper zu verdrängen, hinauszuwerfen und jenes ungute Gefühlsaggregat, das uns heiser zuflüstert: "Da stimmt doch was nicht!", möglichst ein für alle mal zu verbannen. Wir wollen und können es nicht mehr hören. Eine Art Anti-Exorzimus. Wir wollen brunzen, scheißen, kotzen, anderen auf die Fresse hauen und jeder unter den Rock greifen, wo und wann immer ... und dafür auch noch den höchst möglichen Preis zahlen.

Hier liefert die Wiesn in ihrer Funktion als Abfüllanlage, als weiß-blau angemalte Druckbetankungsanlage, ganz nach dem Prinzip, das München, das größte Dorf der Welt, auch aus der Vorortgemütlichkeit zu einem Zentrum der Militärindustrie aufstiegen ließ, Spitzenwerte .

Wenden Sie sich nicht ab, wenn Sie die eindrücklichen Bilder von München kotzt.de studiert haben, sondern folgen Sie dem Zitat des Mannes, bei dessen Besuch man im Hofbräuhaus noch raufen und rauchen durfte, dem Erfinder der Ready Mades, Marcel Duchamp, und dem Text im Anschluß an die Bilderserie! Danke für die wunderschönen Bilder ...
Und wenn Sie noch etwas Muse finden, so dürfen Sie sich auch gerne noch die Gedanken eines Biergärtners zum diesjährigem Besäufnis reinziehen oder schon die Wiesngeschichten vom Brezensalzer 2014. Prost Mahlzeit.
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