Sonntag, 29. Juli 2012
Aleppo - der Willi zum Nichts
Noch sitze ich, das Glas noch voll, und siniere, ob bei den derzeitigen Außentemperaturen wohl eher das flüchtige Wasser oder der Birnenschnaps in den Äther entweicht. Selbst das viele Vorangegangene hilft mir in dieser höchstphysikalischen Frage nicht weiter. Ganz im Gegenteil. Obwohl der Himmel zu dieser späten Abendstunde noch jungfräulich blau, scheint mein Geist vernebelt. Glücklicherweise aber nur der Geist und nicht mein wahres Ich.

Dessen Gedanken verlaufen nicht auf einer Zeitschiene, sondern pulsieren sozusagen punktuell - Pulsardenke. Hier am Biertisch, Impulsardenken, implodierende Gedankengänge, sprich vieles wird verschüttet. Ganz nach dem Gesetz der Entropie, breitet sich, obwohl die Substanz sich wie ein schwarzes Loch verdichtet, dessen Geruch aus.

Verstreut und teils ebenso verschüttet wie der Birnenschnaps liegen die Berichte deutscher Medien über die, den Kampfhubschraubern russischer Bauart trotzenden, Rebellen auf dem Tisch zwischen den Gläsern des Selbstgebrannten, den Brenngläsern der Gegenwart, die ebenso vernebelt wie mein Geist.

Wer sind nur diese Rebellen, jene aus dem Boden gestampfte Freiheitsarmee, die sich aus dem Würgegriff jenes Regimes zu befreien versucht, das bis kuerzlich selbst den US-Amerikanern noch als Folterzentrum dienlich war. Und wer ist Aleppo?

Das wär doch irgendwie fatal, wenn es eine Jubiläumsschlacht werden sollte, zum 100sten Geburts- und Todestag des Aghet.
Ein Replay des Völkermordes an den Armeniern.

Da lese ich "es wird kommen wie in Homs", wie auch schon jener türkische Kampfjet kam und ... ging. Homs und Aleppo, die Endziele der türkischen Endlösung der Armenierfrage von 1915. Die Todesmärsche oder wie es die befreundeten Deutschen nannten, Verschickungen jener verstörenden Armenier, jenen, aus der Sicht der Jungtürken unter Atatürk, dem Totengräber des osmanischen Reichs (M.Enard, Zone, S.227), christlichen Untervölkern.

Die Mannschaften neu gemischt, nur diesmal ohne große armenische Beteiligung. Aleppo, die Kulturhauptstadt des Islam 2006, mit ihrer blutroten Geschichte. Zentrum der Kurden, die sich ganz im Gegensatz zum damaligem Genozid an den Armeniern diesmal nicht so gut mit türkischen Kampfjets verstehen und auch mit den Israelis sicher noch ein Hühnchen zu rupfen haben. Nicht um ein gemeinsames Süppchen zu kochen, sondern sich für die Hilfsdienstleistung des Mossad (nicht durch die Türkei selbst, wie Wikipedia das bewußt verfälscht) für die Türkei zu revanchieren, die Entführung ihres geliebten Herrn Öcalan aus Kenia in die Türkei.
Die Türken aber inzwischen, nicht nur wegen der Piraterie gegen zivile türkische Hilfslieferungen für Palästina, auch nicht mehr mit Israel.
Und last of ethics, but not least in action, die USA im Hintergrund Fäden ziehend und Stricke knotend, um Iran endgültig abzuisolieren.

Wer das Spiel spielt, kennt für gewöhnlich auch das Risiko. Also eigentlich keiner mehr mit keinem, aber alle Armeen auf Aleppo.

Aber die deutschen Medien wissen Bescheid, so bescheiden das Bild auch sein mag, das sie uns vermitteln möchten. So wird es auch in Syrien bald wieder heißen: die armeeische Frage existiert nicht mehr. Wie es der damalige deutsche Konsul in Aleppo, Walter Rössler vor hundert Jahren auszudrücken pflegte.

Den letzten Tropfen, den Willi zum Nichts, trinke ich auf Aleppo.
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