Sozialstress online
Ich muss nur noch diese eine Rechnung verschicken und jene bezahlen. Früher ging man zur Bank und warf den ausgefüllten Überweisungszettel in einen Kasten, heute kann man sich bankbanking garnicht mehr leisten. Online wärs umsonst, aber da wartet der virtuelle Terror.
Denn kaum öffne ich das Postfach, schon wummert es über den Chat. Ich bin hier allerdings geschäftlich tätig und hab weder Zeit noch Lust auf die Befindlichkeiten lockerer Bekanntschaften. Schliesslich platze ich bei meinem Schwager auch nicht durch die Tür und rülpse mal so raus, was bei mir heute so los war.
"Ich schreibe Rechnungen, verpisst Euch." Selbst das Offline-Zeichen wird nicht respektiert. Ich bekomme Meldungen von Postfächern, die ich nie hatte. Die erste hartelinie-Tastatur wird mindestens eine Taste mehr besitzen: "Push it all to Spam".
Als dann noch ein sprechendes Werbefenster angebrausert kommt und sich im Hintergrund fiepend meldet ... da hab ich dann ausgebrausert. Ich gebe auf. Ich verzichte auf die Rechnung. So werden Kunden zu Freunden und Freunde zu Fremden ... denk ich mir noch, schon piepsen und brüllen die Multiversen an Freunden und Bekannten auf ganz anderen Kanäle. Denn kaum ist der Chat agbemeldet, knarzt es als praktische Vorwarnung im Kopfhörer aufgrund der Interferenz, die das längst vergessene Handy auch gleich mit mir eingehen wird. Für wenige Millisekunden vibriert die Tischplatte, schon jault und zischt das Klingeltontrauma.
Geistesgegenwärtig verlasse ich das Wohnzimmer, um mein Ich wieder zu finden. Das hätte ich besser nicht getan, denn nun steht mir das Entsetzen und Grauen noch tiefer ins Gesicht gefurcht und gefräst. Ein Teufelskreis, wesshalb man eben im Grunde jeden Tag einen Tag hässlicher wird. Sozialstress.
Ich stecke in einer ausgesprochen schwierigen Situation, einem Catch 22, einer Loose-Loose-Situation. Im Wohnzimmer drängt der Freundes- und Bekanntenkreis wie eine Horde Körperfresser durch den Bildschirm, im Rest der Wohnung, der Niemandslandzone, bin ich von meinem eigenem Ich überfordert und vor der Tür, draussen auf der Strasse ... das will man sich garnicht vorstellen. Horror mit Leibern, Dantes Inferno im Gewande indischer Tausendsassa- und Elefantengötter. Wilde mit noch wilderen Ideen und Fantasien und mit mehr Geld.
Einzig jene, die ihre Sektenbroschüre Der Wachturm schützend vor sich halten, dürfen nicht mit mir sprechen - immerhin. Stumme Zeugen Jehovas, das lobe ich mir. Die Initiative dazu kam allerdings von gesetzlicher Seite und nicht aus eigener Demut der Sekte. Offener Kreuzzug ist heute eben nicht mehr gern gesehen.
Das virtuelle Restvolk hingegen zeigt nicht so viel Anstand und Grösse, sondern lauert ante portas, rund um meine persönliche Stadtmauer, mit dem einzigen Ziel, meine volle Aufmerksamkeit zu okkupieren. Mit diesem Pack ist kein Pakt zu schließen. Ich bleibe offline.
Als ich vor geraumer Zeit bei meiner Bank vorstellig wurde, um ein paar notwendige, aber gewöhnliche Bankgeschäfte zu erledigen, wies mich eine Angestellte, von der ich erwartete, dass sie mir bei der Erledigung dieser Geschäfte behilflich sein würde, darauf hin, dass ich diese Angelegenheiten auch "bequem" per Automat durchführen könne. "Bequem für Sie", war ich beinahe geneigt zu entgegnen. Allerdings verkniff ich mir die Bemerkung dann in dem Wissen, dass die Angestellte gerade dabei war, sich selbst wegzurationalisieren.
Unser Dasein ist bereits derart "online", sodass ich davon ausgehen muss, dass es gar kein "offline" mehr gibt. Sie können nicht einfach den Stecker ziehen, werte einemaria. Wir leben schließlich in einer Zeit, in der Nachrichtendienste ausgeschaltete Mobiltelephone aus der Ferne orten und vielleicht sogar einschalten können. In der Sie schwerlich ihren täglichen Gang zur Arbeit beschreiten können, ohne dass ein Dutzend Kameras Ihr Bewegungsprofil aufzeichnet und in irgendeine Cloud überträgt.
David Wise und Thomas B. Ross vermerkten im Jahre 1967 in ihrem Buch "Das Spionage-Establishment" (The Espionage Establishment) folgendes: "Im 20. Jahrhundert befindet sich das Individum - in den Demokratien ebenso wie in den Polizeistaaten - von der Geburt bis zum Tode in den Klauen der Bürokratie." An Aktualität eingebüßt hat diese Aussage nichts. Man könnte "Bürokratie" prägnanterweise durch "elektronische Datenerfassung" ersetzten und hätte eine treffende Beschreibung der gegenwärtigen (Miss-)Lage.
Tatsächlich offline sind Sie heute vermutlich nur noch auf menschenleeren Inseln im Pazifik oder irgendwo im Herzen eines noch vorhandenen Dschungelidylls, wobei ich mir auch da nicht mehr ganz sicher bin.
fünfter sein
tür auf
einer raus
einer rein
vierter sein
tür auf
einer raus
einer rein
dritter sein
tür auf
einer raus
einer rein
zweiter sein
tür auf
einer raus
einer rein
nächster sein
tür auf
einer raus
selber rein
tagherrdoktor
Ernst Jandl