Donnerstag, 6. August 2020
Die Welt der Möglicheiten
So. Es hat ein wenig gedauert, bis ich mich seelisch und körperlich auf diesen Artikel vorbereitet hatte. Dem voraus gingen Irrfahrten in die Welt der Nachrichten, eine Odysee durch den digitalen Blätterwald, ein paar Spaziergänge an Bergbächen und ein Ausflug nach Berlin. Harte Fakten sind nicht mehr so leicht zu finden, so durchsetzt wie wir sind von Mikroplastik und Weichmachern.

Berlin, Großdemo gegen Corona oder gegen die Freiheitseinschränkungen ohne Corona oder was auch immer. Ich war da! Gestorben wäre ich allerdings kurz darauf, als ich von der angeblichen Anzahl gelesen hatte und mich fast der Schlag getroffen hätte. Man spricht von 17.000 bis 1.700.000 Teilnehmer*innen. 1.August 2020. Ich seh nochmal nach auf meinem Zugticket, auf meiner Hotelbuchung. 1.8.2020. Meine Koronargefäße kontrahieren sich in einem bedrohllichem Maße. Ich kann bei den entzückenden Bildern des Virus keinerlei Ähnlichkeit zu einer Krone erkennen. Eine Krone, die rundherum Zacken hat? Vielleicht die Dornenkrone? Für mich sieht es aus wie eine Seemine. Und zwar genau wie jene, die auf dem trüben Teich unserer Wertegemeinschaft treibt.

Ich sehe mir nochmal die Fotos von meinem Berlinaufenthalt an und muss feststellen: Da war keiner.
Die angeblichen Fakten und das Abbild der Realität auf meiner Retina stimmen in keiner Weise überein. Wie Joscha Bach in 35c3 - The Ghost in the machine sagt: "Das Vertrauen in einen Glauben muss der Beweislast entsprechen, die diesen Glauben stützt." Sein Versuch, die singuläre Herangehensweise von Individualismus und Materialismus - siehe Kowalski - Der Körper bin ich - aufzulösen, birgt für mich ein wenig Seelenfrieden.

Mit dem funktionalistischen Weltbild eines Joscha Bach ist für mich die aktuelle dissonante Weltpolitik mit des Kaisers neuen Kleidern um einiges erträglicher.
Ein aus den Fugen geratener Weltpolizist beschlagnahmt iranisches Öl in internationalen Gewässern, verbietet eine Nordstream-II-Pipeline und will TikTok verbieten. Wie Elon Musk das in Bezug auf den Putsch gegen Evo Morales sehr treffend bemerkt hat: Wir werden putschen, gegen wen immer wir wollen. Ganz besonders, wenn er dadurch billiger an das bolivianische Lithium rankommt.
Des Kaisers treue Untergebene bewundern die Kleider des Kaisers und verscheuern und verspahnen in exponentieller Geschwindigkeit alles, was ihnen garnicht gehört. (Während sich ein Herr Spahn eine 4-Millionen-€ Villa kauft, um dem Volk nicht so nah zu sein. Es stört ihn, wenn er auf der Straße auf seine Politik angesprochen wird. Das nennt sich heute Volksvertreter.)
Was früher noch unter vorgehaltener Hand gemunkelt wurde, steht heute auf den Titelseiten. Wo man früher die Banken der Mittel- und Unterschicht leergeräumt hat, wartet man heute garnicht mehr bis das Geld auf der Bank landet, sondern räumt es nun schon unter den Kopfkissen raus.

Nachdem mit der letzten Tonnenleerung Moral und Anstand auf die Müllberge verfrachtet hat, nachdem eventuelle Proteste nicht mehr zu befürchten hat, sondern sich nur noch darum sorgen muss, dass das verschossene Tränengas nicht wie in Portland das Grundwasser verseucht, nachdem die letzten Bürgerrechte so weit verbogen wurden, dass sie gebrochen sind, kann man die Fassaden der Demokratie gleich umgestalten zur Arena der Gladiatoren.

Während wir uns noch Gedanken darüber machen, ob wir nicht besser mehr auf Solar- als auf Windkraft setzen und ob die massive Einführung des Elektroautos vielleicht nicht nur ein Verkaufstrick ist, bereiten sich andere schon auf ein Mad-Max-Szenario vor und sammeln sich mit freiwilliger unfreiwilliger UnterstützungWaffenarsenale zusammen.

Wir sind hierzulande in der wunderbaren Superposition, über mehrere Generationen keinen Krieg erlebt zu haben, uns keine Sorgen machen zu müssen, dass abends Essen auf dem Tisch stehen könnte, von Terroristen oder Militärs verschleppt zu werden oder wie Pompeji unter Lavaasche begraben zu werden. Dennoch bemerken wir, dass das untere Lohnniveau sinkt, dass wir immer weniger für immer Mehr zur Verfügung haben, dass die Politik mehr und mehr eine Interessensvertretung der Großkonzerne wird, dass sich unsere Gesellschaft entsolidarisiert und polarisiert.

Aus jeder Bewegung entsteht glücklicherweise eine Gegenbewegung. So kann man hoffen, dass es auch mal wieder solidarischer wird. Sollte aber mal die Wellenfunktion kollabieren, sollten wir uns nicht wundern, wenn wir wie aus dem Alles vor dem Nichts stehen. Noch ist die Fassade intakt, aber vielleicht ist des eben schon die Fassade der Arena.
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