Donnerstag, 30. Dezember 2010
Hallo Mama Silberfisch - Weihnachtsterror im Badezimmer
Ein paar Dimensionen größer und die richtige Nahrungszufuhr und ich säße heute in deinem Badezimmer, Mama Silberfisch. So aber hat die Natur mich dazu auserwählt, über die letzten Wochen deine Nachkommenschaft Tag für Tag zu dezimieren. Deine großen Urzeit-Augen durchforschen mein Gewissen. Du ausgewachsene Schmalspurvariante einer Kellerassel nimmst doch soviel Raum ein, daß sich ein fragender Blick erkennen läßt. Die Antwort kann ich dir nicht geben. Es passiert einfach. Nicht ich, sondern mein Reflex beugt sich nach unten und quetscht einen nach dem anderen weg.

Schmutz, der selbst verschwindet, wenn das Licht angeht, das wünscht sich doch jede Hausfrau - Schmutz, den es nicht gibt. Aber dann verheddert sich doch eines mal im Lichte meines Angesichts. Erst noch ein Silberfischchen und im Anschuß weder Fisch noch Fleisch. Euer Tod ist für uns nicht mehr als eine verschmierter Schimmer, eine Pigmentstörung.

Das würde ich als Strategie der Unachtsamkeit und Intolleranz bezeichnen. Mord aus Gleichgültigkeit, geplant im Affekt, aber doch irgendwie nur Totschlag, eine nachträgliche Herabwürdigung des Opfers - Kategorie A.
Aus meiner Sicht nach die verwerflichste Art des Tötens. Verwerflicher noch als Tiere zu töten, um sie zu essen - welches ich als Kategorie B bezeichne. Tötung mit einer Absicht, einem Ziel und einem, wenn auch fernem, Beweggrund des Hungers. Und ohne Fleisch wäre das Überleben auch möglich.

Unter diesem Gesichtspunkt erscheint die gezielte Tötung einer störenden Person, wie der Zeugenmord, fast eher als Kavaliersdelikt. So im Fall des Kinderhändlers Dutroux: "Bisher sind mindestens 17 Personen aus dem Umfeld der Ermittlungen ums Leben gekommen: Eine Sozialarbeiterin starb bei einem Autounfall; sie hatte zuvor Todesdrohungen bekommen. Ein Polizeiinformant fiel plötzlich tot um. Eine Frau, die über Dutroux aussagen wollten, wurde erwürgt aufgefunden. Die Bekannte seines Komplizen fand man erhängt. Ein Verdächtiger raste gegen ein Haus und starb. Der Schrotthändler, der Dutroux' Tatfahrzeug zerlegte, wurde vergiftet. Die Ehefrau des Schrotthändlers verbrannte im Bett. Und der Staatsanwalt, der die Anklage gegen die Kinderschänder formulieren sollte, beging angeblich Selbstmord." Eine klassische Kategorie C.

Die Ermordung des italienischen Wirtschaftsprofessors und Silberfischchens Marco Biagi, der eher im Umfeld der Strategie der Spannung, als bei den Roten Brigaden anzusiedeln ist, wäre demnach eventuell eher eine Kategorie B. Das Objekt stört nicht, aber die Tötung bringt einen Nutzen. Diesmal nicht Hunger, sondern Terror. Und der ist zum Überleben wichtiger als Fleisch.

Wer sich sowas ausdenkt, kann trotzdem sterben ohne in eine der Kategorien zu fallen, wie im Falle des Susurluk-Skandals. Bei diesem Unfall kamen Hüseyin Kocadag, der stellvertretende Polizeipräsident Istanbuls, Abdullah Çatli, ein führendes Mitglied der rechtsextremen Partei Graue Wölfe und steckbrieflich gesuchter Drogenhändler und Mörder, sowie dessen Lebensgefährtin, die ehemalige Schönheitskönigin Gonca Us ums Leben. Der Parlamentsabgeordnete der DYP und Führer von mehreren Dorfschützereinheiten Sedat Bucak überlebte schwerverletzt. Nicht nur das Auffinden dieser Personen in dem Autowrack verstärkte die Diskussionen über die Verstrickung des türkischen Staats in illegale Machenschaften (siehe Tiefer Staat), zusätzlich wurden sechs gefälschte Pässe (mit jeweils verschiedenen Namen), mehrere tausend US-Dollar, ein Päckchen Rauschgift, Waffenscheine und mehrere Handwaffen mit Schalldämpfern in dem Wrack gefunden und sichergestellt. Laut Prüfungsberichten gehörten diese Utensilien Abdullah Çatli, welcher u.a. durch die Erschießung von sieben sozialistischen Studenten im Jahre 1978 und durch Fluchthilfe für den Papstattentäter und Mitglied der türkischen Counter-Guerilla Mehmet Ali Agca aus einem Militärgefängnis in Istanbul im Jahre 1979 schon vorher juristisch aufgefallen war.

Da wundert es auch nicht zur Weihnachtszeit, sollten solch Kategorielose hinter dem Oktoberfestattentat stecken, am Ende gar der Bund Deutscher Jugend. Leider können wir die Silberfischchen nicht mehr fragen, die diese Kategorie B nicht überlebt haben.

Even paranoics have enemies.
 689 klicks