Mittwoch, 15. November 2023
Cher amis,
es sind Zeiten, wo es keinen Raum gibt, obwohl es vorwiegend um Raum geht; so sehr um Raum geht, dass man die Zeit vergißt. Es sind Zeiten für die ein Adjektiv zu finden schwer ist.

Tägliche Kriegsberichte und eine Krise nach der anderen. Krisen, bei denen sich erst in Jahrzehnten zeigen wird, ob sich die Politik irgendwo versehentlich mit Ruhm bekleckert hat. Eine Polikrise, während das Tik nur noch im Verbot von TikTok und Tic Tac UFOs vorkommt. Zumindest im Politischen scheint es kein Über-Ich mehr zu geben. Eine Verrohung, die meines Erachtens vorwiegend zentrifugal von den Machtzentren in die Peripherie strahlt.
Der Herbst der Zivilisation.
Von der Steinzeit zur Keinzeit eines postmodernen Deutschtums.
Ich-Zeit für manche im Keinraum für viele Andere.

Ich jedenfalls flüchte mich in die Geschichte, in ferne Zeiten, die das Jetzt besser verorten lassen als alles Aktuelle.

Nachdem meine Ohren eine Art Taubheitsgefühl entwickelt haben, ob der Polarierung, die von Politik und der zu ihrem Handlanger verkommenen Presse vorangetrieben wird, löst sich der Rotz und Schleim in meinen Nebenhöhlen durch "Deutschland - Erinnerungen einer Nation" von Neil McGregor oder Florian Illies "1913 - Der Sommer des Jahrhunderts" als wäre es eine medizinische Anwendung.

Es ist keine Neuigkeit, dass der Blick in die Vergangenheit ein Zwielicht auf die vermeintlichen Wahrheiten der Gegenwart wirft. Rom hat nie einen Angriffskrieg geführt. Jede Expansion war wohl begründet. Amerika wurde von jungen weißen Männern entdeckt, als hätte es dort vorher nichts gegeben, und der Bau der Mauer im Süden soll nun verhindern, dass die Indianer zurückkommen. Die gelbe Gefahr, wie sie schon zu meinen Schulzeiten bestand, muss sich nachträglich wohl auf den Mongolensturm des 13.Jahrhunderts beziehen. Und wenn man hört, dass die gegenwärtige Opioidkrise der USA den Taliban und Chinesen angelastet wird, wird man irgendwie an den britischen Opiumkrieg erinnert und verwundert im Merkur lesen "Nach Taliban-Übernahme wird in Deutschland das Heroin knapp - mit drastischen Folgen".

Man kann schon sagen, dass das mit der Kolonisierung der restlichen Welt durch die westliche Welt 'tempi passati' wären. Aber dann sollte man das Fach Geschichte auch aus dem Schulunterricht ausgliedern. Insbesondere in Deutschland, das als heutiges Staatsgebilde letztendlich auf Kolonisierung beruht, woran man sich auch westlich der westlichen Welt noch erinnert. Und ich meine nicht nur die Volksrepublik China, Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Papua-Neuguinea, und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien, sondern die innerdeutsche Kolonisierung.

Deutsche Geschichte in einem Absatz:
Während das römische Reich noch eine strikte Containment-Politik gegenüber den Germanen fahren konnte, könnte man die Zeit der Völkerwanderung nach dessen Zerfall sehr wohl als die ersten Sommerferien Europas bezeichnen, wo jeder hinfuhr, wo er wollte - Hauptsache weg. Als zentralen Punkt für die spätere Entstehung eines deutschen Staates sehe ich die Christianisierung und Kolonisierung Preussens durch den Deutschen Orden während der Zeit des heiligen römischen Reichs deutscher Nation. Ein Kreuzzug also als Eisprung der knapp tausend Jahre darauf folgenden Geburt eines wilhelminisch-kaiserlichen Deutschlands. Erst erobert Deutschland Preussen, dann schluckt Preussen Deutschland - ein Reconquista der anderen Art.


Man darf es wohl als Witz der Geschichte betrachten, dass die entscheidende Schlacht, die den Versuch Napoleons verhindert, eine säkulare EU zu bilden, wie 'Wassertoilette' klingt. Und vielleicht war es das Scheitern dieses Interregnums, das uns zwei Weltkriege beschert hat und bis heute die Bildung eines selbstbewußten Kontinentaleuropas behindert.
Meine Truppen wären auf der Seite Napoleons gegen Blücher gezogen. Wer den Rechtsverkehr erfunden hat, kann in seinem Leben nicht mehr viel falsch machen. Eine napoleonische EU - das hätte geklappt. Das hätte unter der damals zeitgemäßen monarchischen Ägide ein ausgedehntes Familientreffen werden können. Ohne Kanonenfutter, ganz gemütlich und gerne auch beschwipst.

Aber was zeichnen ein genetisch deutscher Zar, ein halbpolnischer französischer König, ein ehemaliger Minister der österreichischen Niederlande und einige andere auf dem Wiener Kongress - ein europäisches Versailles, von der Abschaffung des Sklavenhandels mal abgesehen. Stabilität auf den alten morschen Knochen. Und was hat's gebracht: vom Krimkrieg 1850 bis zum heutigen Dilemma. Great Britain and it's far reaching interest for Crimea - a story for itself.

Ob Prussen, Russen oder Borussia Dortmund, ob Sachsen oder Niedersachsen, ob Anrainer oder Ukrainer, ob undeutsch oder antisemitisch oder semitische Sprachen wie das Maltesische, irgendwo ist immer der Wurm drin bei der Nationenbildung. Und dieser Wurm kann sich einzig nähren von der Zwietracht, die gesäht wird, um später seinen persönlichen Vorteil zu ernten. Trau, schau, wem!
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